Schlagwort-Archive: Generation

Die Spiegel-Autoren haben es geschafft. Ich bin endlich geheilt. Noch vor einigen Monaten hielt man mich vermutlich zu Recht für einen fiesen, ekligen Rechtschreibnazi. Sogar an einigen Textbeiträgen zu diesem Thema versuchte ich mich hin und wieder, alleine in der Hoffnung, die Welt ein bisschen besser zu machen. Man stelle sich vor, auch im Bekanntenkreis pochte ich auf Facebook zumindest auf Korrektur der wildesten Fehler, weil mir die Augen schmerzten vor soviel Rechtschreibunvermögen unter erwachsenen, gebildeten Studenten. Reaktionen provozierte ich damit durchaus, meistens wurde ich wenigstens orthographisch sehr kreativ beleidigt. Bekanntlich haben Rechtschreibnazis keine Argumente und keine Freunde, daher musste ich endlich umschulen. Viel zu oft verwechselte ich die Unfähigkeit, halbwegs korrekte Sätze zu tippen mit fehlender Intelligenz. Das war natürlich in höchstem Maß naiv und falsch. Mein Kreuzzug gegen die Volkskrankheit Legasthenie ist damit hoffentlich zu Ende und ich kann mich wieder um die wirklich wichtigen Dinge im Leben kümmern. Danke!

Endlich begreife ich die Nichteinhaltung der Rechtschreibregeln als Evolution der Rechtschreibung und nicht länger als Verfall selbiger. Ein junger Kollege von mir umschreibt den Sachverhalt gerne mit „lebendiger Sprache“. Ein Artikel auf Spiegel Online beschreibt diesen Effekt, der mir schon seit einigen Jahren nur zu deutlich auffällt: Deutsche Schüler lernen keine Rechtschreibung mehr. Der Artikel konnte mir die Augen öffnen. Anstatt mich wie früher fälschlich darüber zu beklagen, dass unsere Sprache vor die Hunde geht, will ich das Pferd heute mal von hinten aufzäumen und das ganze aus der Sicht der Schüler sehen. Die Generation Facebook und WhatsApp kommt mit den simpelsten Rechtschreibregeln nicht mehr klar, außerdem kostet Rechtschreibung zuviel Zeit beim Tippen, daher bildet sich nun endlich eine völlig neue internet-taugliche Rechtschreibung. Ich wage eine kurze Prognose, wie sich das in den kommenden Jahren entwickeln wird:

  • Groß- und Kleinschreibung werden abgeschafft. Auch am Satzanfang schreibt man künftig klein.
  • Punkt und Komma werden abgeschafft.
  • Satzbau, bzw. Haupt- und Nebensatz werden abgeschafft. Ab sofort gibt es das Gebilde „Satz“ nicht mehr, nur noch „Message“. Das geht konform mit der Abschaffung von Punkt und Komma.
  • Ausrufe- und Fragezeichen kommen nur noch in größerer Zahl vor, um Emotionen auszudrücken, nicht mehr um Sätze zu beenden.
  • Smileys und Capslock werden überall dort verwendet, wo noch mehr Emotionen ausgedrückt werden sollen.
  • Um ganz besonders starke Emotionen auszudrücken, verwendet man Abkürzungen wie OMG, LOL, ROFL, YOLO, HDL, LW („Langweilig“), KZ („Keine Zeit“), und was einem sonst noch so einfällt.
  • Jedes deutsche Wort ist beliebig durch entsprechend bessere englische Vokabeln ersetzbar. („Das kriegst du back!!!!11“)
  • Auch aus anderen Sprachen sollten möglichst viele Lehnwörter verwendet werden, dabei ist die Schreibweise nebensächlich. („Repertwar“, „Blamasche“)
  • Die Backspace-Taste wird abgeschafft. Da ohnehin niemand mehr liest, was er schreibt, sondern lieber blind absendet, braucht man dieses Relikt schon bald nicht mehr.
  • Orthographie wird abgeschafft.

In Zukunft gilt stattdessen nur noch eine Rechtschreibregel, und die ist ganz leicht zu merken: „schrieb so wie du wilst lol!!! ;D“. Wer im Chat, in E-Mails, und in Kurznachrichten komplett auf Rechtschreibung scheißt, der gewöhnt sie sich früher oder später ganz ab, vielleicht ohne es zu merken. So sorgt man wie automatisch dafür, dass man irgendwann in geschäftlichen Schreiben, in wissenschaftlichen Arbeiten, in journalistischen Beiträgen und in formalen Briefen schreibt, als wäre es eine SMS an eine gute Freundin. Dazu gibt es übrigens auch einen recht interessanten Artikel auf Spiegel Online. Aber das nur am Rande.

Glücklicherweise behauptet heute niemand mehr, dass diese Entwicklung etwa auf sprachliche Defizite zurückginge, sondern dass das ein begrüßenswerter Schritt hin zu „kreativerem Schreiben“ ist. Wer kreativ schreiben will, für den ist das veraltete Konzept der Rechtschreibung nur hinderlich. In der Mathematik wird das eines Tages vielleicht ähnlich ablaufen, wenn es darum geht, kreativer zu rechnen. 2 + 2 = 5 ist nach den (im Moment noch) geltenden mathematischen Regeln vielleicht ein bisschen falsch, aber es ist auf jeden Fall viel kreativer. Die Botschaft ist wichtig, nicht die Art wie sie vermittelt wird.

In ein paar Jahren, wenn die jetzige Schülergeneration erwachsen geworden und in die Stellen der Personalentscheider gerutscht ist, dann sind viele Rechtschreibfehler, Smileys, LOLs, OMGs und ein turbulenter Satzbau in Bewerbungen tatsächlich salonfähig und gelten als Ausdrucksmittel von kreativer Persönlichkeit. Gruftis wie ich finden mit ihren altmodischen, standardkonformen, völlig uncoolen Anschreiben leider keine Anstellung mehr in dieser Welt, aber das ist womöglich gut so, denn man will ja bewusst eine Veränderung erreichen.

Ich erinnere mich dunkel an meine Schulzeit, als ich dutzende Aufsätze und Tests im Deutschunterricht schreiben musste. In jeder Klassenarbeit brach ich mir fast einen ab, weil ich mich vor Nervosität beispielsweise nicht mehr daran erinnern konnte, ob es nun „wiederspiegeln“ oder „widerspiegeln“ heißen muss. In jedem Diktat rechnete man pro zwei Fehler jeweils eine halbe Note schlechter. In einem Test über Kommasetzung war ich vor lauter Kommasetzungsregeln so verwirrt, dass ich weiterhin „nach Gefühl“ Kommata verteilte, und obwohl ich damit in weit über 80% der Fälle richtig lag, gab es vermutlich trotzdem nur eine 4 dafür. Bei solchen unfairen Lehrern und Maßstäben würden Kinder heute gnadenlos durchfallen. Wenn ich meine damalige Rechtschreibung mit den Textergüssen heutiger Schüler vergleiche, dann müsste ich mich doch zwangsläufig wie der Einäugige unter den Blinden fühlen. Aber stattdessen betrachte ich mich heute als Zeuge dieses faszinierenden sprachlichen Wandels. Zum Glück gibt es solche restriktiven Regeln bald nicht mehr, weil sich kommende Generationen von den Ketten der Rechtschreibung befreien und irgendwann jeder so schreiben kann, wie es ihm gefällt.

Um meine Sympathie zu dieser Anti-Rechtschreib-Bewegung zu beweisen, werde ich in sämtlichen kommenden Artikeln auf Success Denied zusätzlich zu meinen zahlreichen üblichen Rechtschreib- und Tippfehlern absichtlich einige mehr einbauen.

Achtung: Der folgende Artikel wurde von einem verbitterten alten Mann verfasst, der den jungen respektlosen Leuten einfach nur ihr Glück nicht gönnen will. Alles andere wäre auch kein echter Rant.

Nur eines ist schlimmer als eine Exfreundin, die auch nach zwei Jahren immer wieder gerne die Vorwurfskeule rausholt und rhetorisches Salz in die beinahe verheilten Trennungswunden auf der Seele streut: morgens im Schülerzug zur Arbeit fahren müssen. Nun, man kann sich darüber streiten, ob es sich dabei um eine gelungene Einleitung für das Thema handelt, aber so einen Vergleich musste ich jetzt mal bringen.

Das Schauspiel, das sich mir morgens manchmal bietet, wenn ich mich in den Schülerzug zwänge, um mal früher im Büro zu erscheinen, das lässt mir jedesmal einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen. Dutzende junger Menschen, die sich in den Zug quetschen und den Erwachsenen die Plätze wegschnappen. Aber darum geht es gar nicht. Stattdessen will ich mich darüber auslassen, was ich da so beobachten muss, wenn diese Schüler (alle gerade mal 10-15 Jahre jung) sich auf die Plätze verteilt haben und der Zug anfährt.

In den Augenwinkeln beobachte ich immer, wie die Kids im Zug reihenweise ihre Playstation Portables, ihre iPads und iPods, ihre iPhone 3GS und iPhone 4 auspacken und sich gegenseitig die neuesten und coolsten Apps, die besten Spiele, die fetzigsten Songs der aktuellen Charts, und die witzigsten Partyfotos zeigen (vermutlich von ihren Saufgelagen). Einer meinte tatsächlich zu seinem Kumpel: „Mein iPhone 4S hab ich leider zuhause vergessen, ich hab nur das normale dabei.“ und sein Nebenmann kramte in der Tasche und sprach voller Stolz: „Ich hab meins dabei!“ – Die Generation der Handykinder ist vor ein paar Jahren erst erwachsen geworden, schon kommt die Generation der Smartphonekinder in die Pubertät.

Was treibt Eltern dazu, ihren Kindern zum Geburtstag oder zu Weihnachten ein derzeit noch nahezu 900 Euro schweres Technik-Gadget zuzustecken, wo sie dann auch noch davon ausgehen können, dass monatliche Folgekosten von 20 bis 80 Euro auf sie zukommen? Dass die Eltern ihren Bälgern auch nicht irgendein deutlich günstigeres und mindestens ebenso leistungsfähiges Gerät am Markt hätten kaufen können, und es stattdessen natürlich nur ein iPhone sein durfte, das will ich hier mal wieder gekonnt unbetrachtet lassen. Wer kann von dämlichen Schülern und überforderten Ottonormaleltern auch irgendwelches technisches Verständnis erwarten. Kann mir außerdem niemand weismachen, dass alle diese Kinder Zeitungen austragen oder Babysitten gehen und sich die Geräte selbst verdient haben.

Als ich in dem Alter war, haben meine Eltern mir 50 DM zum Geburtstag geschenkt, und vielleicht mal ein Computerspiel für 70 DM zu Weihnachten. Hätte ich mir ein iPhone zum Geburtstag wünschen können, ich hätte damit locker das Geburtstagsgeld für die nächsten 25 Jahre aufbrauchen müssen. Ich bin gerade ein bisschen froh, dass die Natur mir nicht die Möglichkeit gab, mich selbst durch Zellteilung fortzupflanzen. Wenn ich Kinder hätte, würde ich denen ganz sicher kein iPhone schenken. Stattdessen würde ich versuchen, sie zu technisch aufgeklärten Menschen zu erziehen, die mehr wissen wollen als nur das was die Werbung ihnen einzureden versucht. Und ich würde versuchen, ihnen zu zeigen, wie unverschämt teuer so ein iPhone eigentlich ist und wie lange man dafür arbeiten muss. Als einzige ohne iPhone in der Klasse würden meine Kinder wahrscheinlich von den Mitschülern gehänselt werden.

Ich könnte dann vermutlich nicht einmal einsehen, dass ich daran schuld bin, dass meine Kinder es so schwer haben und ausgegrenzt werden. Ich würde die Gesellschaft dafür verantwortlich machen, dass man Kinder heutzutage offenbar nicht mehr ohne teure Prestigeobjekte aus dem Haus schicken kann. Ging ja früher auch nicht ohne.