Archiv für den Monat: September 2019

Story time, kids!

Unangenehme Erinnerungen an meine Jugend wurden letzten Monat geweckt, als meine Zahnärztin mir grinsend erklärte, dass ich von jetzt an eine Schiene tragen müsse, da meine Zähne vermutlich durch jahrelanges, unbewusstes, nächtliches Zähneknirschen bereits sichtbar in Mitleidenschaft gezogen wurden. Und jetzt, nur ein paar Wochen später, setze ich nun also jede Nacht eine Knirscherschiene ein, auf die ich im Schlaf draufbeißen kann, ohne mir dabei das Gebiss zu ruinieren. Und leider fühle ich mich auch gleich wieder wie 11 Jahre alt. Ich trage schon wieder eine Zahnspange.

Im Herbst 1995, als ich gerade ganz frisch aufs Gymnasium ging, war ich erstaunt darüber, wieviele meiner Mitschüler eine Zahnspange hatten. Es war faszinierend zu sehen, wieviel Metall da in den Mündern im Klassenzimmer herumgetragen wurde, es sah oftmals einfach zu komisch aus. Ich kann mich erinnern, dass ich mich einmal sogar über eine Klassenkameradin lustig gemacht habe, weil sie mich zuvor aus irgendeinem Grund mit ihrer Zahnspange anblaffte. Schon im Januar 1996 fragte mein Zahnarzt mich ganz unerwartet, ob ich schonmal darüber nachgedacht habe, eine Zahnspange zu tragen. Nur wenige Wochen danach bekam ich dann meine eigene. Karma is a bitch!

Kurz darauf saß ich da im Klassenzimmer, meine Deutschlehrerin runzelte ratlos die Stirn und musste schon zum zweiten Mal nachfragen, was ich gerade gesagt hatte, weil sie mich mit meiner Spange absolut nicht verstehen konnte. Eine liebenswerte Mitschülerin an der Tischreihe vor mir bot sich an, mein schmatziges Genuschel für die Lehrerin zu übersetzen, was ihr auch überraschend gut gelang – sie trug selbst eine Zahnspange. Sie blickte mich mitleidig an. Ich fing vor der ganzen Klasse unwillkürlich an zu heulen. Ich fühlte mich hilflos, wie ein Außerirdischer, der eine fremde Sprache spricht, der sich niemandem mehr mitteilen könnte. Meinen Kieferorthopäden und die verdammte Zahnspange habe ich sehr verflucht. Ich glaube, in der Folgezeit habe ich Wortmeldungen im Unterricht weitestgehend unterlassen, womöglich hat meine schulische Leistung dabei auch nachgelassen. Wer weiß. Es war mir seinerzeit ein Rätsel, wie man Kinder mit solchen Geräten derart verunstalten und quälen konnte. Aber zum Glück wurde das Sprechen irgendwann besser, man gewöhnt sich an alles.

Ich konnte nicht wissen, dass meine Behandlung insgesamt fast sechs Jahre dauern würde. Bis weit ins Jahr 2001 hinein habe ich Monat für Monat den Kieferorthopäden aufgesucht, jahrelang mehrere lose Zahnspangen getragen, eine feste Zahnspange mit Brackets, und sogar ein Folterinstrument genannt „Bogen“, bei dem einem zwei dicke Drähte aus dem Mund ragen, die dann beidseitig um den Kopf herum geführt und am Hinterkopf mit einem Band fixiert werden, um den nötigen Gegendruck im Mund zu erzeugen. Kaum dass ich mit diesem sperrigen Metallgestell am Kopf zum ersten Mal aus der Praxis auf die Straße hinausmarschiert bin, ist mir ein x-beliebiger Junge entgegengekommen, der spontan mit dem Finger auf mich gezeigt und mich ausgelacht hat. Das fängt ja gut an, dachte ich mir. Auch aus anderen Gründen muss man mit einem solchen Gerät übrigens ziemlich schmerzresistent sein.

Erst vor kurzem habe ich Diskussionen zum Thema gelesen, in welchen die These aufgestellt wurde, dass Jugendlichen zu vorschnell von Ärzten eine Zahnspange verordnet wird, meist ohne konkrete oder akute medizinische Notwendigkeit. Obwohl ich unter meiner Zahnspange nicht unwesentlich gelitten habe, und sie im besten Fall als ständige Belastung empfand, bin ich heute der Meinung, dass es nicht nur aus medizinischen, sondern vor allem auch aus ästhetischen Gründen grundsätzlich sehr sinnvoll ist, zu einer Zahnspange zu raten. Kinder haben oftmals noch keinen ausgeprägten Sinn für ihr eigenes Aussehen und Auftreten, und so ist auch mir damals nicht aufgefallen, dass ich schiefe Zähne hatte, bzw. bald bekommen würde. Nur der Zahnarzt konnte objektiv beurteilen, dass sich eine Zahnspange langfristig für mich lohnen würde, auch wenn es gerade am Anfang eigentlich nur wie reine Schikane und Quälerei wirkt. Heute habe ich – mal von der Knirscherei abgesehen – immerhin ziemlich gerade, weitestgehend gleichmäßige, symmetrisch ansehnliche Zähne. Nur noch auf alten Fotos kann ich erahnen, wie krumm einzelne Zähne bei mir nachgewachsen waren, und wieviel schlimmer es mit der Zeit wahrscheinlich noch geworden wäre, wenn man die Behandlung vernachlässigt oder ignoriert hätte.

Hätte man mich damals gefragt, ob ich eine Zahnspange haben will, ich hätte selbstredend lachend abgelehnt. Darum war es auch gut, dass mir niemand diese Entscheidung jemals ernsthaft überlassen hat. Und auch meinem Vater bin ich dankbar, dass er dem Zahnarzt nicht schimpfend widersprochen hat, so wie er es heute in seinem Alter gerne tut. Mich zu zwingen war die einzig richtige Vorgehensweise. Dadurch haben diese Menschen in ihrer grenzenlosen Weitsicht zum Glück dafür gesorgt, dass ich wenigstens als Erwachsener mit einem annehmbaren Gebiss herumlaufen darf – wider mein pubertäres Zetern und Heulen. Viele Menschen, die sich gegen Zahnspangen bei (ihren eigenen oder auch fremden) Kindern aussprechen, unterschätzen den essenziellen Beitrag gerader Zähne zum Äußeren eines Menschen, bzw. unterschätzen, wie unattraktiv schiefe Zähne jemanden machen können, und wie sehr das vielen Mitmenschen unangenehm auffällt.

So werde ich also wieder einmal den ärztlichen Rat befolgen und ab sofort fleißig meine Schiene tragen. Ist ja zum Glück nur nachts, wenn ich es kaum mitbekomme. Auch wenn ich weiß, dass ich dieses Mal nicht nach sechs Jahren davon befreit werde, sondern leider auf unbestimmte Zeit damit leben muss. Im Moment ist es vermutlich schwer, den Nutzen dieser Schiene zu erkennen, aber vielleicht in 20 oder 30 Jahren, wenn ich noch immer keine dritten Zähne habe, sondern meine eigenen behalten durfte, werde ich zurückdenken und dankbar sein, dass ich damals nicht zu doof war, wenigstens das Mindeste zum Erhalt meiner (Zahn-)Gesundheit zu tun.